- Nils Havemann
„Work-Life-Balance“: Warum nicht die 24-Stunden-Woche?

In der vergangenen Woche hat die deutsche Lokführergewerkschaft GDL ihre Muskeln spielen lassen. Mit einem Warnstreik hat sie die bahnfahrende Bevölkerung einmal mehr in Geiselhaft zur Durchsetzung ihrer Tarifforderungen genommen. Ihr Chef Claus Weselsky, der ständig auf Krawall gebürstet und für viele genervte Bahnkunden mittlerweile ein rotes Tuch ist, fordert für die Eisenbahner nicht nur eine zweistellige Lohnerhöhung: Nicht minder wichtig ist ihm die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden.
Im Grunde fügt sich diese Forderung nahtlos in das Gesamtbild unserer gegenwärtigen Arbeitswelt. Viele Personalchefs in Unternehmen berichten davon, dass sie große Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Mitarbeitern hätten. Bewerber legten größten Wert darauf, Berufs- und Privatleben in Einklang zu bringen: Die „Work-Life-Balance“ muss stimmen!
Andernfalls sehen sich Beschäftigte gezwungen, woanders anzuheuern oder sogar auf das „Bürgergeld“ umzusatteln, das endlich einen Alltag mit genügend Freizeit ohne lästige Jobverpflichtungen ermöglicht. Insofern nimmt sich die Forderung der GDL nach Arbeitszeitverkürzung ohne jegliche Abstriche bei der Entlohnung moderat, geradezu bescheiden aus. Dies gilt umso mehr, als der Ruf nach der 35-Stunden-Woche bereits in den 1980er Jahren auf Protestzügen von Gewerkschaftlern ertönte.
Von dieser Warte aus stellt sich die Frage, warum nicht in allen Branchen ein viel radikalerer Schritt gewagt wird: die Einführung der 24-Stunden- und der Drei-Tage-Woche, selbstverständlich bei vollem Lohnausgleich. Immerhin haben technische Innovationen in den vergangenen Jahrzehnten zu enormen Produktivitätssteigerungen geführt, die doch diese deutliche Verringerung der Arbeitszeit rechtfertigen könnten.
Tatsächlich sind diese Produktivitätsfortschritte längst verfrühstückt worden. Zwar kann man mit Fug und Recht bestreiten, dass sie gleichmäßig auf den Köpfen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern verteilt worden sind. Aber selbst die benachteiligten Arbeitnehmer können sich insofern nicht beklagen, als ihr Arbeitsleben im Vergleich zu den 1960er Jahren insgesamt erheblich einfacher, bequemer und auch lukrativer geworden ist. Wenngleich dies nicht auf alle Bereiche gleichermaßen zutrifft, waren die Jobs unserer Eltern und Großeltern mit weitaus größeren psychischen und physischen Anstrengungen verbunden — bei deutlich geringerer Bezahlung.
Vielleicht wird eines Tages die 24-Stunden-, eventuell sogar die 12-Stunden-Woche eingeführt. Momentan ist dies jedoch nicht möglich, ohne sich selbst massiv zu schaden. Flächendeckend und für alle Branchen würde schon die 35-Stunden-Woche zu Konsequenzen führen, die auch die Eisenbahner massiv zu spüren bekämen.
Jedenfalls hätten auch sie nicht viel von ihrer gewonnenen Freizeit: Sie müssten sich selbst um ihre Kinder kümmern, weil Kitas und Schulen an vielen Tagen geschlossen blieben; im Krankheitsfall wären sie länger ans Bett gefesselt oder müssten sogar sterben, weil sie nicht rechtzeitig in den Genuss der erforderlichen medizinischen Versorgung kämen; vor ihren Haustüren stapelte sich der Dreck und röche es schlimmer als auf einem öffentlichen Pissoir, weil die Müllabfuhr zeitweise ihren Dienst einstellen müsste; und falls sie mal in den Urlaub fahren möchten, stünden sie unvermittelt vor dem gleichen Problem wie ihre Kunden letzte Woche bei der Bahn: Nichts geht mehr!
Aber vielleicht fehlt uns allen mal die Erfahrung eines solchen gesamtgesellschaftlichen Kollapses. Wahrscheinlich würden dann die Allermeisten wieder zu würdigen wissen, 38 oder auch 40 Stunden in der Woche arbeiten zu dürfen: Das Gefühl, nicht nur für sich selbst etwas Sinnvolles zu tun, bleibt unbezahlbar.