- Nils Havemann
Wohlstandsverluste: Deutschland ist ärmer, aber noch nicht glücklicher

Wer hat in den vergangenen Monaten nicht alles vor einem drohenden „Wohlstandsverlust“ gewarnt! Stellvertretend dafür, dass die vielen Mahner in nahezu allen politischen Ecken stehen, seien lediglich SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, die bayerische CSU-Landesregierung, der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger und die AfD-Bundestagsfraktion in Gestalt ihres finanzpolitischen Sprechers Kay Gottschalk genannt.
Dass Deutschland in den letzten Jahren insgesamt bereits ein wenig ärmer geworden ist, lässt sich kaum bestreiten. Bei einer Inflation in Höhe von 7,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2022 waren viele gezwungen, den Gürtel enger zu schnellen, zumal die Löhne vielerorts nicht in gleichem Maße stiegen. Hinzu kamen die Folgen der Corona-Maßnahmen, die viele Kleinunternehmer und Freiberufler in den finanziellen Ruin getrieben haben. Nun scheint sich auch noch eine Rezession eingeschlichen zu haben, deren Ausmaß und Auswirkung auf den Wohlstand erst vollständig sichtbar sein werden, wenn sie vorüber ist.
Zudem wuchs die Staatsverschuldung zwischen 2019 und 2023 von rund 60 auf fast 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Viele Ökonomen behaupten, dass die Staatsschulden von heute die Steuererhöhungen von morgen sind. Dabei haben die gestiegenen Staatsausgaben keineswegs zu einer spürbar besseren Infrastruktur geführt, mit der sich die Deutschen über private Wohlstandsverluste hinwegtrösten könnten. Vielmehr scheinen marode Straßen, renovierungsbedürftige Schulen, fehlende Wohnungen und lange Wartezeiten in Krankenhäusern oder auf Ämtern den Eindruck zu bestätigen, dass viele Bereiche des Landes den Bach heruntergehen. Kein Wunder also, dass drei Viertel der Bundesdeutschen befürchten, vor allem nach Eintritt in die Rente nicht mehr über die Runden zu kommen.
Dieser verbreitete Pessimismus steht in einem scharfen Kontrast zum Optimismus, der Ende der 1950er Jahre in der alten Bundesrepublik hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft herrschte. Auch hier könnte man meinen, dass dies nicht sonderlich erstaunlich ist – hatte doch damals das „Wirtschaftswunder“ in einem Land, das nach dem Krieg hoffnungslos darnieder zu liegen schien, „Wohlstand für alle“ gebracht. Die Deutschen fühlten sich angesichts der traumhaft hohen Wachstumszahlen, niedriger Inflation und Vollbeschäftigung wie im Schlaraffenland. Die vielen runden Bäuche und speckigen Gesichter verraten, dass sie ihren damaligen Wohlstand in vollen Zügen genossen.
Dabei waren die Deutschen Ende der 1950er Jahre im Vergleich zu heute ziemlich arm. Wenn der durchschnittlich verdienende Deutsche von heute noch einmal unter den wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen der Adenauerzeit leben müsste: Spätestens nach einer Woche würde er die Verletzung seiner Menschenwürde beweinen und sich danach sehnen, wieder ins Jahr 2023 zurückkehren zu dürfen. Nicht nur, dass er damals im Schnitt 48 Stunden statt heute rund 35 Stunden pro Woche arbeiten müsste: Von seinem Gehalt könnte er sich auch weitaus weniger leisten. Auto, Fernsehgerät oder der Jahresurlaub – dafür waren weitaus größere Sparanstrengungen erforderlich als in der Gegenwart. Einmal ganz davon zu schweigen, dass der Zeitreisende in seinem Wagen nicht nur Klimaanlage und Navigationsgerät vermissen würde, sondern beim Fernsehgerät auch auf Farbe und Fernbedienung verzichten müsste. Und ob er die Reise in den Bayerischen Wald oder in den Harz als ebenso erlebnisreich empfinden würde wie den heutigen Trip nach Mallorca oder auf die Kanaren, darf zumindest bezweifelt werden.
Und dann noch die Wohnverhältnisse! So schwierig es ist, gegenwärtig eine vernünftige und bezahlbare Bleibe zu finden: Ende der 1950er Jahre war dies keinen Deut leichter. Wegen des eklatanten Mangels an Wohnraum mussten sich damals viele damit abfinden, in eine Wohnung zu ziehen, die nicht einmal ein eigenes WC hatte. Selbst die damaligen Neubauten wären aus heutiger Sicht nicht nur ein Fall für den Mieterbund, sondern gleich für Amnesty International – wenn dieser nicht schon genug damit zu tun hätte, sich über die damalige ärztliche Versorgung zu empören. Denn gleichgültig, ob Krebs oder fauler Zahn, Schlaganfall oder Hämorrhoiden: Die damaligen „Therapien“ ähneln aus heutiger Sicht eher Methoden aus der Folterkammer.
Es bedarf keiner besonderen psychologischen Kenntnis, um zu erklären, warum trotz des immer noch enormen Wohlstandes die gegenwärtige Stimmung derart schlecht ist: Ende der 1950er Jahre ging es wirtschaftlich bergauf, 2023 scheint es bergab zu gehen. Damals hatten die Deutschen gerade „die Karre wieder aus dem Dreck“ gezogen, heute haben viele den Eindruck, dass sie bald wieder mittendrin steckt.
Ob die verbreiteten Sorgen berechtigt sind, wird sich zeigen. Derzeit aber gibt es für die allermeisten zumindest in materieller Hinsicht immer noch wenig Grund, sich nach der vermeintlich goldenen Vergangenheit zurückzusehnen.