- Nils Havemann
Wenn zwei das Gleiche tun, ...

Wie viele Bücher sind über „Antisemitismus“ geschrieben worden? Wie viele Wissenschaftler haben sich der Mühe unterzogen, diesen Begriff klar zu bestimmen? Wie viele gelehrte Auseinandersetzungen hat es über solche Definitionsversuche gegeben? Die Zahl ist deshalb nicht einmal annähernd zu schätzen, weil „Antisemitismus“ zu jenen verschwommenen Begriffen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften gehört, die sich nicht fassen lassen wie naturwissenschaftliche Phänomene, für die es oft eindeutige Merkmale gibt und die entsprechend präzise eingegrenzt werden können.
Doch bei aller Vagheit dieses Begriffs: Es verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Antisemitismus in Deutschland momentan sogar bis weit in Regierungsparteien hineinreicht.
Zu erkennen ist dies an den unterschiedlichen Reaktionen von Anhängern der SPD und der Grünen auf das Massaker von Butscha, bei dem im März 2022 Angehörige der russischen Kriegspartei rund 500 ukrainische Zivilisten ermordeten, und auf das Massaker im Grenzgebiet zum Gazastreifen, bei dem im Oktober 2023 Angehörige der Hamas rund 1200 israelische Zivilisten ermordeten.
Im Frühjahr 2022 beeilten sich Repräsentanten der SPD und der Grünen nahezu einmütig, das Massaker als das zu bezeichnen, was es ist: als ein Kriegsverbrechen. Mehr noch: Die Ampelkoalition in Berlin verschärfte unmittelbar danach die Sanktionen gegen Russland, sie betonte das Recht auf Selbstverteidigung der Ukraine, sie unterstützte das Land dabei mit vermehrten Waffenlieferungen, und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock kündigte sogar an, den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin vor ein Tribunal stellen zu wollen.
Im Herbst 2023 beeilten sich zwar auch Anhänger der SPD und der Grünen, ihre „Solidarität“ mit Israel zu erklären und sein Existenzrecht zur „deutschen Staatsraison“ zu erheben. Aber sonst? Nichts, was wesentlich über Krokodilstränen hinausgehen und diese „Solidarität“ und „deutsche Staatsraison“ auch in Taten spiegeln würde.
Das Verbot der Hamas in Deutschland lässt quälend lange auf sich warten, Millionen von deutschen Hilfsgeldern fließen immer noch in den Gazastreifen, und jeden Tag Bilder von Menschen auf deutschen Straßen, die weitgehend ungehindert und ungeniert die Taten der Terrororganisation feiern und ihrem Hass auf Juden freien Lauf lassen. Überdies viele mahnende Worte an Israel, den Konflikt bloß nicht zu „eskalieren“ und auf die „humanitäre Lage“ der zivilen Bevölkerung im Gazastreifen Rücksicht zu nehmen; und als vergiftetes Sahnehäubchen obendrauf Aussagen, wonach die Gräueltaten der Hamas im Grunde eine mehr oder weniger verstehbare Reaktion auf die „israelische Besatzung“ seien.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die unterschiedlichen Reaktionen auf das Massaker von Butscha und auf das Massaker im Grenzgebiet zum Gazastreifen zeigen den ungeschminkten Antisemitismus eines vornehmlich im „linken“ Spektrum angesiedelten Milieus. Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hatte bereits Anfang des Jahres darauf hingewiesen, dass beim Judenhass von „rechter“ Seite hart reagiert werde, während der „Links-Antisemitismus“ zunehmend salonfähig zu werden scheine. Dies haben wohl auch „Linke“ in Israel erkannt, die ihren einstigen politischen Freunden in Europa nun ein „Go to Hell“ zurufen.
Ein wesentlicher Grund für diesen „linken“ Antisemitismus liegt in der Überzeugung vieler Sozialisten, dass es sich bei Juden um Angehörige einer „kapitalistischen“ Klasse handele, die mit ihrer angeblichen Geldgier „Arme“ und „Unterprivilegierte“ ausbeute. Sie schreiben den Erfolg des Staates Israel „bürgerlichen“ Charaktereigenschaften zu, die viele „Linke“ zutiefst verachten: familiärem Gemeinsinn, Streben nach Bildung und Besitz, Leistungsbereitschaft, kurz: dem Bestreben, nicht in einer anonymen Masse aufzugehen, sondern aus seinem eigenen Leben etwas Besonderes zu machen.
Man darf sich daher nicht täuschen: Wenn in „linken“ Kreisen vom Recht auf Selbstverteidigung, von Humanität oder von Menschenrechten gesprochen wird – gleichgültig, in welchem Zusammenhang – , gilt dies nicht unbedingt für jeden, sondern erst einmal nur für den vermeintlich Schwächeren. „Starke“ und „Reiche“ hingegen haben frühestens dann Anspruch auf solche Prinzipien, wenn sie eben nicht mehr „stark“ und „reich“ sind.
Wenn diesen erschreckend unterschiedlichen Reaktionen auf die Massaker von Butscha und im Grenzgebiet zum Gazastreifen etwas Positives abgerungen werden kann, dann ist es dies: Der „linke“ Nimbus, schon von vornherein die moralisch höherwertigen Überzeugungen zu vertreten, bröckelt weiter. Selbst Zeitgenossen, die sich von sympathischer Gerechtigkeits-, Menschenrechts- und Solidaritätsrhetorik leicht blenden lassen, müsste es allmählich dämmern, dass viele „Linke“ ihrem „rechten“ Feindbild ziemlich ähnlich sind – nur spiegelverkehrt.