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  • Nils Havemann

Die täglichen Nachrichten: Grund zur schlechten Laune?


Wer sich auf das Wagnis einlässt, Generationen mit bestimmten Eigenschaften beschreiben zu wollen, wird zwangsläufig nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen. Jeder Mensch bleibt ein Individuum, das sich der Pauschalisierung entzieht.


Dennoch hat es seine Berechtigung, Generationen mit einzelnen Begriffen zu belegen, um Tendenzen der Zeit prägnanter darzustellen. So wird etwa im Zusammenhang mit den Jahrgängen von 1965 bis 1975 bisweilen von einer „Generation Golf“ gesprochen, die ohne Rücksicht auf die ökologischen Folgen lediglich darauf bedacht (gewesen) sei, den Wohlstand zu genießen. Man kann über die Berechtigung dieser Charakterisierung trefflich streiten. Aber selbst ihre Verfechter sind nicht so vermessen zu behaupten, dass jedes Mitglied dieser Generation einen rein materiellen Lebensstil auf Kosten der Umwelt pflegt. Es ging und geht ihnen lediglich darum, das vermeintlich Vorherrschende dieser Altersgruppe aufzuspüren.


Wollte man die gegenwärtige Generation der 16- bis 25-Jährigen auf einen Begriff bringen, so scheint „Verunsicherung“, vielleicht sogar „Angst“ der Treffendste zu sein. Wer sich mit jüngeren Menschen unterhält, trifft häufig auf ein gewaltiges Ausmaß an Pessimismus. Auf den ersten Blick ist dies nicht überraschend – hat doch diese Generation in den letzten Jahren Entwicklungen und Ereignisse erlebt, die geeignet sind, jugendliche Neugier, Freude und Lebensbejahung zu ersticken. Probleme wie Corona, Klima, Ukraine, Inflation, Migration, Bildung, Terror oder Energie wurden in der Öffentlichkeit fast beliebig mit den Wörtern Krise, Krieg, Katastrophe und Not kombiniert. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn im Angesicht all dieser Desaster nicht die gesamte Gesellschaft in eine kollektive Depression verfiele.


Für die schlechte Stimmungslage gibt es viele Gründe. Es kann kaum in Abrede gestellt werden, dass sich hinter den meisten dieser Begriffe gravierende Schwierigkeiten verbergen. Eine wesentliche Ursache des allgemeinen Trübsinns liegt aber ganz woanders und bleibt in der Regel ungenannt: eine Geschichtsvergessenheit, durch die vielen offenkundig nicht mehr bewusst ist, dass jede Generation „Krisen“, „Kriege“ und „Katastrophen“ teilweise sogar in weitaus größerer Form als heute zu bewältigen hatte.


Dabei muss nicht das gern bemühte Extrembeispiel der Generation angeführt werden, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Nehmen wir stattdessen die genannte „Generation Golf“, die angeblich derart vom Schicksal geküsst wurde, dass sie früher einen sorgenfreien Wohlstand und eine unbeschwerte Zeit genießen durfte.


Wer 1965 in der Bundesrepublik geboren wurde, erlebte im Alter von acht Jahren die erste Ölkrise, durch die der Preis für Energie und andere Konsumgüter explodierte. Dies mochte eine amüsante Seite gehabt haben, weil der Zwang zum Energiesparen autofreie Sonntage bescherte, an denen die Kinder mit ihren Rädern auf der Autobahn umherkurven konnten. Doch die folgende Rezession trieb die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik über die Millionengrenze, so dass – einhergehend mit der zurückgehenden Kaufkraft – die Angst vor sozialem Abstieg tief in die Mittelschicht einzudringen begann.


Wer das Glück hatte, Eltern zu haben, die einen sicheren, gut bezahlten Job hatten und von den diversen Wirtschaftskrisen nicht betroffen waren, sah sich über die gesamten 1970er und 1980er Jahre mit den Anschlägen des Linksterrorismus konfrontiert, die es besonders auf die Repräsentanten des reichen „Kapitals“ und „autoritären“ Staates abgesehen hatten. Gewiss waren nur die wenigsten Eltern Zielscheibe von Terroristen. Dennoch erzeugten die Bilder von zerschossenen Autos und auf offener Straße liegenden Leichen unter jungen Menschen eine Furcht einflößende Wirkung.


Dieses bedrückende Gefühl wurde durch Nachrichten von Kriegen in Nah- und Fernost verstärkt. Die Presse scheute sich damals nicht, die damit einhergehenden Szenen von öffentlichen Hinrichtungen, aufgetürmten Menschenschädeln oder Kindern zu zeigen, die durch Verletzungen entstellt worden waren. Sicherlich konnte man sich einige Zeit damit trösten, dass all dies geographisch sehr weit entfernt war. Doch dies änderte sich schon Anfang der 1980er Jahre, als durch die unverkennbaren imperialistischen Bestrebungen des Sowjetkommunismus und die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen der Krieg vor allem in Deutschland als Mittelpunkt des Ost-West-Konfliktes wieder heiß zu werden drohte. Spätestens im Herbst 1981 mit Beginn der Aufrüstungsdebatte im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses schlugen selbst den sonnigsten Repräsentanten der heranwachsenden „Generation Golf" die düsteren Visionen von Untergangspropheten aufs Gemüt: In Westeuropa sahen die vielen Apokalyptiker in Politik, Medien und Bevölkerung bereits einen Nuklearkrieg heraufziehen und Atompilze aufsteigen.


Man könnte meinen, damals sei immerhin die Natur noch gesund gewesen, so dass keine Klimakatastrophe eine letzte Generation dahinzuraffen drohte, falls sich der Nuklearkrieg doch noch gerade vermeiden ließe. Weit gefehlt: Auch in dieser Hinsicht hatten Wissenschaftler gleich mehrere Möglichkeiten im Angebot, wie die Erde die lästige Menschheit abschütteln könnte: Der „Club of Rome“ prognostizierte 1972 aufgrund des massiven Bevölkerungswachstums bei gleichzeitiger Erschöpfung der natürlichen Ressourcen spätestens für 2020 eine globale Hungersnot; die Winter der Jahre 1977 bis 1979 waren derart kalt, dass damals einige Forscher eine nahende Eiszeit mit all den damit verbundenen Katastrophen vorhersahen; Anfang der 1980er Jahre schockierte die Presse mit Berichten über das Waldsterben, dessen Ursachen bereits Kleinkinder dahingerafft hätten; und ab 1985 warnten Forscher vor dem Ozonloch, das die Krebsrate unter Menschen in ungeahnte Höhen treiben werde.


Blieb den nun 20-Jährigen damals wenigstens eine Pandemie wie Corona mit all den damit verbundenen Einschränkungen erspart? Nein, auch das nicht! Ab 1985 wurden sie verstärkt mit Aids konfrontiert, einem damals tödlichen Virus, das vor allem durch Geschlechtsverkehr übertragen werden konnte. Zwar war es nicht erforderlich, im Alltag Masken zu tragen. Dafür wurde den jungen Menschen inmitten ihrer hormonellen Sturm-und-Drang-Phase ihre Spontaneität genommen. Bei jeglichem Anflug von libidinöser Hemmungslosigkeit tauchte vor dem geistigen Auge unweigerlich eine ältere Anstandsdame namens Rita Süssmuth auf, die als Gesundheitsministerin einen aufwendigen Bluttest oder zumindest die Benutzung eines Kondoms anmahnte: Lust adé!


Aber damals gab es wenigstens noch keine „Künstliche Intelligenz", die heutzutage den Menschen in vielen Bereichen überflüssig zu machen droht und daher die persönliche Berufswahl mit erheblichen Unsicherheiten befrachtet. – Von wegen! Mit der Weiterentwicklung der Computer, ihrer Nutzung in nahezu jedem Unternehmen und ihrem Vordringen in die privaten Haushalte mussten sich ab Ende der 1980er Jahre ganze Berufszweige umorientieren. Schreibkräfte, Buchhalter, Fotografen, Grafiker, Setzer, Kassierer und noch viele mehr standen vor der Herausforderung, für ihre herkömmlichen Tätigkeiten neue Fertigkeiten zu erwerben oder gar in einer vollkommen anderen Branche ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die angeblich so verwöhnte „Generation Golf" musste von dem Anspruch ihrer Eltern Abschied nehmen, den einmal erlernten Beruf ohne größere Einschnitte bis zur Rente ausüben zu können. Und die Horrorvision, dass Roboter irgendwann einmal ein Eigenleben entwickeln und die Macht über die Erde an sich reißen könnten, gibt es nicht erst seit „ChatGPT": „Der Terminator" mit Arnold Schwarzenegger als unkaputtbarer, wild um sich ballender Androide kam 1984 in die Kinos!


Dafür sah sich das Land damals keiner Migrationsbewegung ausgesetzt, die gegenwärtig mit großen Schwierigkeiten wie Integrationsdefiziten, Überfremdungsängsten oder Wohnungsnot einhergehen. – Auch dies ein gehöriger Irrtum! Die gesamte Geschichte der Bundesrepublik ist verbunden mit gewaltigen Wanderungsbewegungen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufnahme von rund 10 Millionen Flüchtlingen begannen, sich mit der Anwerbung von rund 14 Millionen „Gastarbeitern" aus der ganzen Welt fortsetzten und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen weiteren Schub erfuhren. Wer glaubt, dass dies in der Vergangenheit keine größeren Konflikte hervorgerufen habe, sollte sich die Bilder von pogromartigen Demonstrationen, offenem Rassismus und brennenden Asylbewerberheimen anschauen, die Anfang der 1990er Jahre auch die Ende 20-Jährigen aus der so verhätschelten „Generation Golf" erschütterten.


Was ist der Grund dafür, dass trotz der frappierenden Ähnlichkeiten zwischen den damaligen und heutigen „Krisen“, „Kriegen“ und „Katastrophen“ der Pessimismus vor allem unter der jüngeren Generation aktuell weitaus ausgeprägter zu sein scheint? Einmal davon abgesehen, dass es auch in den 1980er Jahren Zukunftsängste gab, die sich in Parolen wie „No future“ äußerten, gab es einen wesentlichen Unterschied: Die Welt schien übersichtlicher zu sein – nicht, weil sie es tatsächlich war, sondern weil der Strom an Informationen noch nicht jene enorme Breite und reißende Kraft erreicht hatte, die in der Gegenwart ein ruhiges Navigieren durch die Geschehnisse erschweren.


Es wäre unangebracht, deswegen gleich über „die“ Medien oder „das“ Internet zu schimpfen. Im Gegenteil: Wahrscheinlich war die Medienlandschaft in Deutschland als Ganze noch nie so informativ und vielfältig wie im Jahr 2023; und das Internet trug wesentlich zum lang gehegten Traum der Demokratisierung von Gesellschaften bei, indem es jedem ermöglicht, die Welt an seinen persönlichen Befindlichkeiten, Einsichten und Weisheiten teilhaben zu lassen. Aber damit ist bereits die Kehrseite angedeutet: Diese Vielstimmigkeit auf dem Nachrichten- und Meinungsmarkt erzeugt einen dröhnenden Lärm, durch den die Neigung gestiegen ist, sich über Polemiken, Provokationen und Pöbeleien Gehör zu verschaffen. „Aufmerksamkeitsökonomie“ wird dies genannt, wobei ihre Wirkung weniger in der erhofften Beachtung als in der Zunahme einer Aggressivität besteht, durch die sich selbst gemäßigte Menschen zumindest begrifflich radikalisiert haben. So kann auf den unbedarften Beobachter dieser öffentlichen Auseinandersetzungen der Eindruck entstehen, dass die Gesellschaft im Wesentlichen von „Rassisten“, „Ökofaschisten“, „Nazis“, „Kriegstreibern“, „Demokratiefeinden", „Umweltschweinen“ und „Vollidioten“ beherrscht wird. Wer soll da keine Angst bekommen?


Zugegeben: Es ist nicht leicht, in Streitfragen immer entspannt zu bleiben und den richtigen Ton zu treffen. Überdies sind spitze Bemerkungen und scharfe Attacken legitime Bestandteile von Kontroversen . Doch wenn sie nicht mit dem Bemühen einhergehen, sich auch sachlich mit anderen Positionen auseinanderzusetzen, bleibt als Substanz nicht mehr als Krawall, der die Debatte vergiftet.


Daher die Idee zu dieser Plattform. Die hier veröffentlichten Beiträge sollen neben einem hohen Informationsgehalt und einer guten Lesbarkeit eine weitere Voraussetzung erfüllen: ein möglichst unaufgeregter, gelassener, bisweilen auch heiterer Grundton, der sich selbst bei scharfer inhaltlicher Kritik an einzelnen Entwicklungen der verbreiteten Skandalisierungslust, Panik und Pöbelei enthält.


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