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  • Nils Havemann

Aiwanger und ein antisemitisches Pamphlet: Wann Politiker zurücktreten



Hubert Aiwanger, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident und Bundesvorsitzender der Freien Wähler, steht in der öffentlichen Schusslinie: Infolge eines Artikels in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde bekannt, dass er im Schuljahr 1987/88 als Pennäler der Klasse 11 ein übles antisemitisches Flugblatt in seiner Tasche hatte, das angeblich von seinem Bruder Helmut verfasst worden war. Nun regen sich die einen darüber auf, dass Aiwanger an einen Rücktritt nicht einmal zu denken scheint und dass sich auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder bislang weigert, ihn zu entlassen. Andere hingegen wittern eine Schmutzkampagne kurz vor der bayerischen Landtagswahl und empören sich darüber, dass dafür ein „Dumme-Jungen-Streich“ ausgegraben wurde, der vor mehr als drei Jahrzehnten unter bislang nicht vollständig geklärten Umständen begangen wurde.

Wer sich auf einen kleinen Streifzug durch die Geschichte von Politikerrücktritten in Deutschland einlässt, wird rasch erkennen, dass es nicht die Schwere der Verfehlung ist, die zum Rücktritt oder zur Entlassung führt. Zahlreiche Politiker wie Franziska Giffey, Gesine Schwan oder Karl-Theodor zu Guttenberg mussten von ihren Ministerämtern zurücktreten, nachdem ihnen Plagiate in ihrer Dissertation nachgewiesen worden waren. Was für jeden akademischen Mitarbeiter an einer Hochschule eine Todsünde ist, könnte bei Politikern als verzeihlich betrachtet werden – zumindest als verzeihlicher als die rund 250 Millionen Euro Steuergeld, die der CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer in den Sand setzte. Er durfte aber im Amt bleiben, obwohl er im Dezember 2018 trotz eines laufenden Gerichtsverfahrens gegen eine geplante Pkw-Maut langfristige Verträge mit privatwirtschaftlichen Unternehmen zum Aufbau der Mautinfrastruktur unterschrieben hatte. Die genannte Summe wurde ohne jegliche Gegenleistung zur Entschädigung für den entgangenen Gewinn fällig, als der Europäische Gerichtshof die Maut-Pläne endgültig kippte.

Die zeitliche Distanz zur Verfehlung ist es auch nicht, die über den Erfolg von Rücktrittsforderungen entscheidet. 1978 musste der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) seine politische Karriere beenden, weil er rund drei Jahrzehnte zuvor als Militärrichter der Kriegsmarine unter dem NS-Regime mehrere Todesurteile mitzuverantworten hatte. 2001 überstand der grüne Außenminister Joschka Fischer Berichte, wonach er rund drei Jahrzehnte zuvor bei Straßenkämpfen auf Polizisten eingeprügelt hatte. Beide Fälle offenbarten aber, dass der Umgang mit dem „Skandal“ den weiteren Verlauf beeinflussen kann: Während sich Fischer von seinen Gewalttaten distanzierte und sich dafür entschuldigte, verfing sich Filbinger in einem selbst gestrickten Netz von fragwürdigen Rechtfertigungen, die erhebliche Zweifel an seiner Einsicht begründeten.


Sicherlich hat es auch mit der Stärke des öffentlichen Drucks zu tun, durch die der gescholtene Politiker zu Fall gebracht wird: Bei Claudia Roth, die als verantwortliche Kulturstaatsministerin 2022 über antisemitische Machwerke auf der Documenta lange Zeit großzügig hinwegschaute, hielt sich die Presse mit Rücktrittsforderungen weitgehend zurück: Sie ist immer noch im Amt. Über Jürgen W. Möllemann hingegen, der 2002 die Herstellung und Verbreitung eines antisemitischen Faltblattes zu verantworten hatte, entlud sich unmittelbar danach ein Sturm der Entrüstung: Er überlebte diesen „Skandal“ im wahrsten Sinne des Wortes nicht. Dies lag auch daran, dass dem FDP-Politiker damals der politische Rückhalt in der Partei und bei (möglichen) Koalitionspartnern fehlte – anders als nun im Fall Aiwanger, der sich ähnlich eigenwillig rechtfertigt wie dereinst Filbinger.


Tatsächlich kennt die Geschichte auch Politiker, die strenge Vorstellungen von Verantwortung hatten und trotz politischen Rückhalts ihren Hut nahmen. Innenminister Rudolf Seiters (CDU) zog 1993 ohne langes Zögern die politischen Konsequenzen aus einem missglückten Polizeieinsatz auf dem Bahnhof in Bad Kleinen. Journalisten hatten behauptet, die Anti-Terror-Einheit GSG9 habe dabei den Terroristen Wolfgang Grams vorsätzlich erschossen. Seiters hätte diesen „Skandal“ problemlos überstehen können, zumal sich die Vorwürfe als falsch herausstellten. Doch das Festhalten am Amt widersprach seiner Auffassung von Verantwortung und „politischer Hygiene“, die mit dem Gedanken einhergeht, dass auf ein hohes Staatsamt kein moralischer Schatten fallen dürfe.


Insofern erscheinen die gegenwärtigen Klagen im Fall Aiwanger über das Fehlen dieser politischen Hygiene als durchaus gerechtfertigt – kämen sie nicht bisweilen aus Ecken, die in anderen Fällen entweder dröhnend geschwiegen oder das entsprechende Fehlverhalten als halb so schlimm abgetan haben. Ein politischer „Skandal“ ist oft auch die Zeit der Doppelmoral und Heuchelei: Rücktritte und Rücktrittsforderungen hängen und hingen schon immer von Machtkonstellationen, politischen Interessen und Parteizugehörigkeiten ab.


Die Wähler in Bayern dürfen bald selbst darüber entscheiden, welche Konsequenzen aus dem Fall Aiwanger gezogen werden sollen.

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