- Nils Havemann
Spanische Kuss-Affäre: Warum Rubiales in Wirklichkeit den Zorn auf sich gezogen hat

Der Rücktritt von Luis Rubiales als Präsident des nationalen Fußballverbandes RFEF scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Bei der Siegerehrung der spanischen Fußball-Weltmeisterinnen hatte er die Nationalspielerin Jennifer Hermoso auf den Mund geküsst und damit heftige Empörung hervorgerufen. Seine Verteidiger sind in den letzten Wochen angesichts der medialen Wucht immer schmallippiger geworden oder haben sich sogar vollständig von ihm distanziert. Dazu beigetragen hat ein Fehler, den viele in solchen „Skandalen“ begehen: Anstatt sich rasch und unmissverständlich für seine Handlung zu entschuldigen, verstrickte sich Rubiales mit seinen Erklärungsversuchen in Widersprüche. Unter diesen Umständen vermochte auch der kurze Hungerstreik seiner Mutter die aufgeheizte Stimmung gegen ihn nicht abzukühlen.
Der Druck auf Rubiales ist auch deshalb ins Unermessliche gestiegen, weil der Kuss zu einem weltweiten Politikum mit bisweilen absurden Zügen geworden ist. Sogar die UNO, in deren Menschenrechtsrat die für ihre emanzipatorischen Fortschritte so bekannten Staaten wie Algerien, Indien und Somalia sitzen, sah sich zur scharfen Verurteilung der Tat genötigt. Sie unterstützte damit den Kurs der spanischen Regierung, die zu den ersten gehörte, die Rubiales‘ Rücktritt gefordert hatten.
Dass letztere von einer Linkskoalition aus der sozialdemokratischen PSOE und dem linken Bündnis Unidos Podemos gestellt wird, spielte dabei keine große Rolle. Auch eine Regierung unter der konservativen Volkspartei PP wäre gezwungen gewesen, in dieser Angelegenheit eine ähnliche Position einzunehmen. Vielleicht hätte es etwas länger gedauert, vielleicht wäre die Forderung nach Rücktritt ein wenig schüchterner ausgefallen, wahrscheinlich wäre der innere Widerwille dagegen groß gewesen: Aber letztlich hätte auch eine PP-geführte Regierung Rubiales zumindest nahegelegt, seinen Sessel zu räumen.
Sie hätte sich dem Willen der spanischen „Me-too“-Bewegung gebeugt, weil diese weitaus stärker ist als in den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Ihren Aufrufen zu Demonstrationen folgen in Spanien Hunderttausende von Frauen. Ihre Kampagnen erreichen eine Sturmkraft, gegen die sich die Aktionen ihrer deutschen Gesinnungsgenossinnen wie laue Lüftchen ausnehmen. Neben der Tatsache, dass die spanische Gesellschaft politisch aktiver und protestfreudiger ist als viele andere, bezieht die dortige „Me-too“-Bewegung ihre enorme Kraft aus einem viel näher liegenden Grund: Die Notwendigkeit ihrer Existenz war viel größer.
Der spanische Machismo ist kein Klischee, sondern ein über viele Jahrhunderte kräftig gewachsener Bestandteil der spanischen Kultur. Überdies konnte sich dort eine Frauen-Emanzipationsbewegung erst spät entwickeln. Die Franco-Diktatur endete 1975, so dass wesentliche Schritte zur Gleichberechtigung wie das Recht auf Scheidung, die Abschaffung des nur für Frauen geltenden Straftatbestands Ehebruch oder die Möglichkeit des straffreien Schwangerschaftsabbruchs erst in Angriff genommen wurden, als sie anderswo längst vollzogen waren. Aber selbst solche überfälligen Reformen fielen unter dem Einfluss der katholischen Kirche, die nach dem Ende des Franco-Regimes ihren großen Einfluss lange Zeit behielt, eher halbherzig aus.
So nachvollziehbar die Wut vieler spanischen Frauen über sexuelle Übergriffe und politische Versäumnisse ist: Mittlerweile stellen nicht nur „reaktionäre“ Kräfte oder Repräsentanten der katholischen Kirche die Frage, ob die Bewegung nicht weit über das Ziel hinausschießt. Anders als in der hiesigen Berichterstattung oft dargestellt, ist die spanische Gesellschaft in dieser Kontroverse weitaus gespaltener als beispielsweise in Deutschland, wo jeder „Me-too“-Fall zumindest in der veröffentlichten Meinung nahezu einhelliges Entsetzen auslöst.
Ein Grund für diese große Polarisierung ist die schwer auszutreibende Machismo-Einstellung vieler Männer und teilweise auch Frauen, die sich mit ihrer traditionellen Kirche-Küche-Kinder-Rolle identifizieren. Aber selbst ein großer Teil derjenigen, die sich davon gelöst haben, bezweifeln, ob jede übergriffige Handlung gleich ein derartiges mediales Echo wie jetzt im Fall Rubiales verdient. Sie halten es mit prominenten Künstlerinnen wie Catherine Deneuve, deren Warnung vor einer Überempfindlichkeit, moralischen Säuberung und einem neuen „Puritanismus“ in Spanien große Resonanz erzeugte: Bei aller Abscheu vor sexuellen Straftaten bezweifeln sie in den Fällen, die unterhalb dieser Schwelle angesiedelt sind, die Verhältnismäßigkeit von Tat und öffentlicher Reaktion.
Es ist schwer einzuschätzen, ob es sich bei diesem Teil der Bevölkerung sogar um die schweigende Mehrheit handelt. Denn das eigentliche Problem ist ähnlich wie auf vielen anderen Feldern weitaus beunruhigender als das Streitthema an sich: Einen „herrschaftsfreien“ Diskurs gibt es nicht mehr. Man muss, wie im spanischen Sprachraum derb formuliert wird, „Cojones“ haben, um in einem Umfeld medial angeheizter Hysterie eine unwillkommene Position einzunehmen. Wer dieses Wagnis eingeht, muss mit harten Konsequenzen rechnen, die sich erheblich auf die eigene berufliche und soziale Existenz auswirken können. Die offene Debatte wird durch die radikale Mobilisierung ersetzt: Gegenstimmen sollen möglichst rasch mundtot gemacht werden, während sich Opportunisten ermutigt fühlen dürfen, in den lauten Chor der Empörung einzustimmen.
Der mediale Lärm um diesen Kuss markiert insofern einen zivilisatorischen Rückschritt, als viele spanische Medien damit begonnen hatten, ihre eigene Rolle in den „Me-Too“-Kampagnen kritischer zu betrachten. Die Bereitschaft zur Selbstreflexion war durch prominente Fälle wie den US-amerikanischen Schauspieler Kevin Spacey gestiegen, der auch in Spanien zum Objekt einer medialen „Caza de brujas“ (Hexenjagd) wurde, bevor die Justizbehörden ihre Arbeit verrichten konnten. Als sich allmählich herausstellte, dass die Anschuldigungen gegen Spacey für eine Verurteilung nicht ausreichten, gab sich mancher Journalist selbstkritisch. So schrieb beispielsweise die zweitgrößte Tageszeitung „El Mundo“, dass die geschürte öffentliche Empörung das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung gefährde. Sie ergänzte diese Feststellung mit der Bemerkung, dass bei der Beurteilung von Vergehen bisweilen auch „mit zweierlei Maß gemessen“ werde.
Damit nähert man sich dem eigentlichen Grund, warum die Erregung über Rubiales‘ Kuss so groß ist: Der spanische Verbandspräsident ist kein Sympathieträger, sondern ein älterer, weißer Mann, dem unseriöse Finanzgeschäfte, dunkle Machenschaften und nun auch wilde Orgien auf Kosten des Verbandes vorgeworfen werden. Überdies steht er stellvertretend für einige Entwicklungen im Profifußball, die viele Fans verabscheuen. Er repräsentiert die hemmungslose Vermarktung des Sports, die sich unter anderem in der Verlegung des spanischen Supercopa nach Saudi-Arabien äußerte, wo Menschrechte mit Füßen getreten werden.
Es ist keine allzu gewagte Behauptung, dass die Empörung über seinen Kuss nicht annähernd so groß ausgefallen wäre, wenn es sich bei Rubiales um einen braven Ehemann mit jugendlichem Charme handeln würde, der sich zuvor glaubhaft für Menschenrechte oder die Beschneidung kommerzieller Aktivitäten im Sport eingesetzt hätte. Von dieser Warte aus drängt sich der Eindruck auf, dass seine vielen Feinde auf diese Gelegenheit gewartet haben, um ihn mit seinem Supercopa gleich mit in die Wüste zu schicken: Mit wenigen Bildern vom Kuss ließ sich die Öffentlichkeit weitaus leichter mobilisieren als mit vielen Texten über schwer zu beweisende Finanzskandale, deren Zusammenhänge ohnehin kaum jemand versteht.
Man muss wahrlich kein Freund von Rubiales sein, um den hohen Preis solcher Kampagnen zu erkennen. Sie führen unter nonchalanter Missachtung der Unschuldsvermutung zu einem von Doppelmoral gekennzeichneten Kesseltreiben gegen einzelne Personen, deren Existenzvernichtung billigend in Kauf genommen wird. Überdies täuschen sie ein gesundes sittliches Volksempfinden vor, über das in rechtsstaatlich verfassten Demokratien ebenfalls die unabhängige Justiz zu entscheiden hat. Denn moralische Wertvorstellungen sind zunächst etwas sehr Subjektives und auch in Spanien gerade mit Blick auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedlich. Sie werden erst dann in entsprechende Gesetze gegossen, wenn darüber ein ausreichend großer gesellschaftlicher Konsens besteht, der sich in den parlamentarischen Mehrheiten spiegelt. Insofern darf man gespannt sein, was die Justiz aus der Strafanzeige macht, die Hermoso gegen Rubiales erstattet hat. Sollte er mit seinem Verhalten tatsächlich eine strafbare Handlung begangen haben, drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft!
Nach Abschluss der Ermittlungen wird sich also zeigen, was der größere Skandal war: der Kuss oder das Verhalten vieler Presseorgane, die aus den zahlreichen Fällen von peinlichen Vorverurteilungen in der jüngeren Vergangenheit nicht viel gelernt zu haben scheinen. Offenkundig ist das Bedürfnis zu groß, den spanischen Verbandspräsidenten als Repräsentanten eines Fußballsports loszuwerden, der nach dem Eindruck vieler Fans zur Beute einer gierigen Altherrenriege geworden ist. Jedenfalls hätte unter anderen Umständen und mit einem sympathischeren Mann in der Hauptrolle der Kuss nicht annähernd diese Aufregung erzeugt – es sei denn, er wäre vor laufender Kamera mit der fälligen Ohrfeige beantwortet worden.