- Nils Havemann
„Now and Then“ von den Beatles – Das letzte Lied musikalischer Genies

Die Beatles haben 53 Jahre nach ihrer Trennung mit „Now and Then“ ein neues Lied veröffentlicht - mithilfe künstlicher Intelligenz. Sie befreite ein altes Demotape, auf dem der 1980 ermordete John Lennon den Song einsang, von störenden Brummgeräuschen. Dadurch ermöglichte sie den beiden letzten lebenden Pilzköpfen, Paul McCartney und Ringo Starr, die Vollendung dieses Stücks, das sie bereits in den 1990er Jahren gemeinsam mit dem mittlerweile ebenfalls verstorbenen Beatle, George Harrison, weiterbearbeitet hatten. Es ist also kein plumper Marketing-Gag, wenn behauptet wird, dass es sich bei „Now and Then“ um ein „echtes“ Beatles-Werk handele.
Dennoch ist die anfängliche Reaktion auf die Veröffentlichung eher durchwachsen. Zwar zeigen sich vor allem ältere Fans davon bewegt, noch einmal Lennons unverwechselbare Stimme gleichsam aus dem Jenseits zu hören. Doch viele halten das Lied eher für „banal“, „uninspiriert“, gar für eine „Totgeburt“, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in einem Verriss schrieb. „Now and Then“ sei, wie andere meinen, weit davon entfernt, ein Meisterwerk zu sein.
Ist das Lied also eine Enttäuschung, weil es voraussichtlich kein neuer Klassiker wie „Hey Jude“, „Yellow Submarine“ oder „All you need is love“ wird, die heute fast jeder Mensch auf der Welt mitsingen kann?
Man muss die „Beatlemania“ in den 1960er Jahren nicht selbst erlebt haben, um zu erkennen, dass das Gesamtwerk der Jungs aus Liverpool außergewöhnlich ist. Wer musikalisch Anfang oder Mitte der 1970er Jahre sozialisiert wurde, wird sich vielleicht noch daran erinnern, welche zum Teil grausigen Lieder damals die Hitparaden der westlichen Welt stürmten: Glam Rock von Bands und Solisten, deren schrecklichen Schlaghosen, Clowns-Kostüme und verfilzten Langhaarfrisuren verzeihbar gewesen wären, wenn die Musik nicht ähnlich schräg und schrill gewesen wäre wie ihr Erscheinungsbild. Deshalb bekommen heute bei lauten Brüllnummern wie „Blockbuster“, „Skweeze Me, Pleeze Me“ oder „I'm The Leader Of The Gang“ nur noch diejenigen glasige Augen, die sich nach jenen dunklen Partykellern mit flackernden Lichtorgeln zurücksehnen, wo die Jungs unter peinlichen Verrenkungen Luftgitarre spielten und die Mädels kess ihre in enge Jeanshosen gehüllten Hüften bewegten.
Was war es dagegen eine Offenbarung, erstmals eine Scheibe der Beatles aufzulegen! In meinem Fall war es die Langspielplatte „Help!“, auf der gleich die ersten beiden Lieder den Zuhörer in einen anderen musikalischen Kosmos versetzten, der Lichtjahre entfernt zu sein schien von dem unmelodischen Geschrei, das damals aus vielen Boxen ertönte. Ohne die englischen Texte zu verstehen, musiktheoretische Kenntnisse zu besitzen oder gar eine Ahnung von „4-Spur-Rekordern“ und „Overdubs“ zu haben, war das Erstaunen groß über die ungewöhnlichen Harmonien, den fetten Gitarrensound und den perfekt sitzenden Begleitgesang. Sie machten den Titelsong und das anschließende „The Night Before“ zu einem akustischen Erweckungserlebnis. Von da an versuchte ich, mit begrenztem Taschengeld und unter den bescheidenen Bedingungen der damaligen Medienwelt an jeden Song heranzukommen, den die Beatles in ihrer Karriere veröffentlicht hatten.
Renommierte Musikwissenschaftler und Komponisten setzten sich bereits in den 1960er Jahren mit dem Werk der Pilzköpfe ernsthaft auseinander. Das wohl bekannteste Beispiel ist Leonard Bernstein, der voller Hochachtung verschiedene Stücke für die Öffentlichkeit musiktheoretisch sezierte. Mittlerweile gibt es über diese Gruppe weitaus mehr Bücher als Lieder, die sie eingespielt haben. Sie beschreiben bis ins Detail , wie jeder ihrer mehr als 200 Songs aufgebaut ist und produziert wurde. Doch so aufschlussreich diese Bücher auch sind: Bislang ist mir keines in die Hände gefallen, das plausibel zu erklären vermochte, warum sich die Musik der Beatles sowohl geographisch als auch zeitlich so weit ausbreiten konnte. Ihre Lieder werden auch mehr als 50 Jahre nach ihrer Entstehung auf allen Kontinenten gespielt, ohne dass eine Sättigung zu erkennen wäre. Superstars verschiedenster Herkunft haben sich bis in die Gegenwart hinein der Lieder der Beatles angenommen und sie gecovert – von Adele und Ed Sheeran über Miriam Makeba und Youssou N’Dour bis hin zu Teresa Teng und Jay Chou. Offenkundig haben die Beatles einen universalen Musik-Code entdeckt und entwickelt, der Menschen unabhängig von ihrer Kultur oder sonstigen Prägungen zu erreichen vermag.
So mögen Kritiker nörgeln, dass „Now and Then“ nicht die beste Nummer der Beatles sei. Aber die beste Nummer der Beatles gibt es ohnehin nicht: Wer nur ein wenig ihr Gesamtwerk kennen und schätzen gelernt hat, wird sich bei näherem Hinhören dem großen Zauber nicht entziehen können, der auch ihr letzter Titel entfaltet.