- Nils Havemann
Ist die Welt schwarz-weiß? – Putin, Prigoschin und ein vermisster Kriegsberichterstatter

Gestern starb Jewgenij Prigoschin, Chef der Wagner-Söldner, beim Absturz seines Privatflugzeugs über Russland – „mutmaßlich“, wie die meisten Berichte darüber geflissentlich hinzufügten. Obwohl also noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, ob Prigoschin wirklich tot ist, glauben die meisten schon zu wissen, wer ihn ins Jenseits befördert hat: der russische Präsident Vladimir Putin. Die Vermutung ist bestechend logisch. Prigoschin war derjenige, der es vor rund zwei Monaten gewagt hatte, so etwas wie einen Putsch gegen Putin zu initiieren, der – unter ebenfalls nicht geklärten Umständen – irgendwo auf dem Weg zwischen Rostow und Moskau wieder abgeblasen wurde.
Trotz seines Mutes, sich dem russischen Kriegsherrn zumindest ansatzweise in den Weg zu stellen, wird Prigoschin im Westen nicht sonderlich beweint. „Prigoschin war wahrlich kein Guter“, erfährt der Leser in „Der Spiegel“: Es gebe „eigentlich keinen Grund, ihm nachzutrauern, nur weil er es wagte, sich mit dem anderen Kriegsverbrecher im Kreml anzulegen“. Der „mutmaßlich“ Verblichene war mit seiner Söldnertuppe „mutmaßlich“ selbst für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich. Folglich handelt es sich beim Flugzeugabsturz lediglich um einen Fall, in dem ein Schurke „mutmaßlich“ einen anderen Schurken erledigt hat. – Prima, so ist die Welt „mutmaßlich“ ein wenig sauberer geworden, ohne selbst zum feuchten Schrubber gegriffen zu haben!
Dennoch beschleicht den unkundigen Beobachter ein gewisses Unbehagen. Im Grunde ist über diesen Krieg nicht viel mehr bekannt, als dass Putin im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat. Ansonsten kann nur wenig von dem, was bislang über Ursachen, Verlauf und Ziele dieses Waffenganges geschrieben wurde, als gesichert gelten. Zwar sieht der erschütterte Zuschauer die Bilder von gefallenen Soldaten, getöteten Zivilisten und zerstörten Städten, und es gibt nicht den geringsten Grund, an ihrer Echtheit zu zweifeln. Doch so selbstbewusst sich die meisten „Experten“ geben, die sich vor die Kameras und Mikrofone drängeln, um das Geschehen zu erklären: Historiker wissen, dass bei den allermeisten Kriegen die eigentlichen Umstände erst viele Jahrzehnte später zutage gefördert werden, wenn sich der Qualm über den Schlachtfeldern längst gelegt hat. Bis dahin gilt die Weisheit des deutschen Reichsgründers Otto von Bismarck, der ein Meister der Flexibilität im Umgang mit der Wahrheit war: „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“
Es ist daher auch kein Zufall, dass viele Zuschauer in diesen Monaten einen Kriegsberichterstatter schmerzlich vermissen, der fast auf den Tag genau vor neun Jahren starb: Peter Scholl-Latour. Wer sich seine alten Fernsehreportagen erneut anschaut oder seine zahlrechen Bestseller noch einmal zur Hand nimmt, ist zunächst erstaunt über die enorme Popularität, die der deutsch-französische Journalist anscheinend immer noch genießt. Sein Auftreten erweckte oft den Eindruck von maßloser Arroganz; seine Texte waren in Thomas-Mann-Manier bisweilen extrem verschachtelt; und seine politischen Einschätzungen nuschelte er derart undeutlich vor sich hin, dass er schon beim ersten Bewerbungsgespräch als Rundfunkjournalist hätte durchfallen müssen. Dennoch lauschten die Zuschauer aufmerksam, wenn er aus irgendeinem Krisengebiet auf der Welt berichtete.
Das Geheimnis seines Erfolges war nicht nur, dass er für seine Recherchen auch dort hinging, wo sich viele andere Reporter nicht mehr hinwagten. Vielmehr schätzten viele an ihm, dass er sich der Neigung enthielt, die Welt moralisch in schwarz-weiß zu zeichnen. Ob der kommunistische Vietcong, die Mullahs im Iran oder finstere Potentaten in Afrika: Es ist schwer, Passagen zu finden, in denen er mit ethischen Begriffspaaren wie „gut“ und „böse“ operierte. Er setzte die westliche Brille samt ihren Vorstellungen von Demokratie, Aufklärung und Menschenrechten ab, um auf der Basis eines profunden historischen Wissens das zu verstehen, was gerade vor sich ging. Der Vorteil dieser Vorgehensweise war ein klarer Blick auf Zusammenhänge, die vielen seiner Berufskollegen in ihrer moralischen Entrüstung über das Geschehen entgingen. Dadurch sah er erstaunlich viele Entwicklungen wie die Niederlage der USA in Vietnam, das Wiederstarken der islamischen Fundamentalisten oder das Scheitern des Arabischen Frühlings mit all ihren negativen Konsequenzen für den Westen weitaus früher als andere „Experten“ voraus.
Von dieser Warte aus lohnt es sich, das Interview zu sehen, das Scholl-Latour 2014 wenige Monate vor seinem Tod dem Fernsehsender „Phoenix“ gab. Was er über Russland, die Ukraine, die Krim und die Nato bekundete, zeugt von einer gänzlich anderen Perspektive auf den Konflikt, als sie westliche Medien gegenwärtig vermitteln. – War Scholl-Latour etwa einer dieser unsäglichen „Putinversteher“? Möglich. Vielleicht wusste er aber auch nur etwas mehr über die unendlich vielen Schattierungen dieser Welt.