- Nils Havemann
Der Streit um Andreas Rettig beim DFB: Fußball als politisches Spiegelbild

Der Fußball erfreut sich nicht nur deshalb großer Beliebtheit, weil das Spiel einfach zu verstehen ist und weil niemand weiß, wie es ausgeht. Seine große Attraktivität rührt auch daher, dass viele Akteure in diesem Sport Identifikationsfiguren sind. Mehr noch: Sie können als Symbole für allgemeinere Entwicklungen herangezogen werden. In dem Konflikt um die Berufung von Andreas Rettig zum neuen Geschäftsführer Sport des DFB ist dies wieder einmal in Vollendung zu beobachten.
Aus Protest gegen diese Personalie traten Karl-Heinz Rummenigge, Mitglied im Aufsichtsrat des FC Bayern München, und Oliver Mintzlaff, Aufsichtsratschef von RB Leipzig, aus der der „DFB-Taskforce“ aus. Sie war nach der enttäuschenden WM 2022 in Katar gegründet worden, um die sportliche Situation des deutschen Fußballs zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Dass sich Rummenigge und Mintzlaff auf der einen sowie Rettig auf der anderen Seite nicht sonderlich mögen, ist bekannt. Die Streitpunkte zwischen ihnen sind zahlreich: Rettig hat sich in früheren Positionen wiederholt für eine „gerechtere“ Verteilung der TV-Gelder eingesetzt – was der FC Bayern München als Verwässerung des „Leistungsprinzips“ strikt ablehnt; als DFL-Geschäftsführer sprach sich Rettig 2014 gegen die Lizensierung von RB Leipzig aus, dessen Vereinsstruktur nach seiner Auffassung nicht mit der „50+1“-Regel im deutschen Profifußball vereinbar ist; und über die politischen Verhältnisse in Katar äußerte sich Rettig im Vorfeld der WM 2022 äußert kritisch, während der FC Bayern München lange Zeit mit dem Golfstaat glänzende Geschäfte machte.
Die Berufung von Rettig ist aus der Perspektive des DFB konsequent. Sie treibt einen Prozess voran, den man auch als „Sozialdemokratisierung" oder „Vergrünung“ des Verbandes bezeichnen kann. Vorbei sind die Zeiten, in denen ebenso streitbare wie umstrittene Personen wie Peco Bauwens, Hermann Neuberger oder Gerhard Mayer-Vorfelder die sportpolitische Richtung des Verbandes vorgaben. Dieser Kurs bestand darin, trotz heftiger Kritik vieler Medien und Fans dem Erfolg des DFB nahezu alles unterzuordnen. Fragen der „Moral“ mussten hintanstehen, wenn sie sportliche Triumphe oder finanzielle Profite zu gefährden schienen: Gleichstellung der Geschlechter, Antirassismus, Nachhaltigkeit, Kampf gegen Homophobie, Menschenrechte – aus ihrer Sicht alles „Gedöns“, das im Fußball nichts zu suchen habe.
Spätestens unter Theo Zwanziger Anfang der 2000er Jahre setzte der Wandel ein. Der DFB definierte seine gesellschaftspolitische Verantwortung neu. Er öffnete sich der Kritik von außen, kanzelte unbequeme Fanorganisationen nicht mehr ab, entwarf Antirassismus-Kampagnen, förderte verstärkt den Frauenfußball, sagte der Homophobie den Kampf an, stellte neben die schwarz-rot-goldene Fahne die Regenbogenflagge und zeigte gegenüber Menschenrechtsfragen eine Sensibilität, wie sie wenige Jahre zuvor kaum vorstellbar gewesen wäre. In dieses „woke“ Erscheinungsbild fügte sich nahtlos der Entschluss, im Kinderfußball keine Meisterschaftsrunden mehr auszutragen, um „den Leistungsdruck zu minimieren". Rettig steht insofern in dieser Linie, als er mit seiner Kritik am ausufernden Kommerz und seiner Haltung zur WM in Katar die in Deutschland verbreitete Sehnsucht nach einem „moralisch“ besseren Sport bedient.
Der FC Bayern München hingegen ist der glatte Gegenentwurf zum DFB. Dort stehen Leistung und Erfolg derart im Mittelpunkt, dass selbst der Gewinn der nationalen Meisterschaft zu schweren Depressionen führen kann, wenn er nicht mit dem Sieg in der Champions-League einhergeht. Der Verein strebt ständig nach mehr – sowohl sportlich als auch finanziell. Dafür lässt er in Menschenrechtsfragen fünfe gerade sein, kooperiert mit Staaten, die in dieser Hinsicht nicht unbedingt als vorbildlich gelten, lehnt eine „gerechtere“ Verteilung der Fernsehgelder als „sozialistische Gleichmacherei“ ab, pflegt in seinem sozialen Engagement einen patriarchalischen Ansatz und beteiligt sich am gesellschaftspolitischen „Gedöns“ nur dann, wenn es nicht zu viel kostet – und die Konzentration auf den sportlichen Erfolg nicht beeinträchtigt.
Auf den ersten Blick sympathischer ist der gesellschaftspolitische Entwurf des DFB. Die Frage ist nur, wie lange er diesen Kurs fortsetzen kann, wenn der sportliche Erfolg weiterhin ausbleibt und infolgedessen immer mehr Fans von der Fahne gehen. Die Nationalmannschaft, das Aushängeschild des Verbandes, agierte in den letzten Jahren nicht sonderlich glücklich. Sie wirkte bei ihren Auftritten bisweilen derart tollpatschig, dass sich viele Zuschauer von ihr abgewandt haben. Ähnlich wie der geschasste Nationaltrainer Hansi Flick finden sie daher die Aufladung des Spiels mit politisch-moralischen Botschaften nur noch „nervig“ und halten eine Konzentration auf das Sportliche für erforderlich. Jedenfalls ist für den Verband die rasche Rückkehr zu sportlicher Stärke auch zu einer Existenzfrage geworden: Die vergangenen Pleiten haben in seinem Portemonnaie große Löcher gerissen. Einmal mehr bewahrheitet sich, dass man sich „Moral“ leisten können muss.
Parallelen zwischen dem DFB und der gegenwärtigen Ampelkoalition in Deutschland sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch sie hat ein sympathisches Konzept, mit dem sie viele „moralische“ Ziele wie Klimaschutz, Gleichstellung, leistungsloses Einkommen oder Menschenrechte in aller Welt zu fördern versucht. Das Problem auch hier: Ihre Aushängeschilder agieren auf der großen politischen Bühne weitgehend erfolglos und bisweilen derart tollpatschig, dass ihr die Wähler davonlaufen. Überdies sind viele Menschen vom ethischen Anspruch dieser Politik genervt, weil er ihren Wohlstand massiv zu gefährden scheint: Sie glauben, sich diese „Moral“ bald nicht mehr leisten zu können. Zuletzt drohte sogar die leistungsstarke Industrie immer häufiger damit, infolge dieser wirtschaftsfeindlichen Politik deutsche Standorte zu schließen oder ins Ausland zu verlagern.
Man darf also gespannt sein, wann der FC Bayern München erneut einen Ausstieg aus der Bundesliga prüft und mit einem Beitritt zu einer Weltliga droht: Zumindest würde es ins politische Bild passen.