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  • Nils Havemann

„Den Sozialismus in seinem Lauf …“ - Wie wäre es mit mehr Marktwirtschaft?




Das deutsche Bruttoinlandsprodukt schrumpft, und schon ertönt lautes Krisengeschrei: Deutschland, das Flaggschiff europäischer Wirtschaftspotenz, droht zu kentern! Ähnlich wie Anfang des Jahrtausends, als unter der rot-grünen Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder die Daten auf einen unaufhaltsamen wirtschaftlichen Niedergang hinzudeuten schienen, kursiert über Deutschland wieder das Narrativ vom „kranken Mann in Europa“.


Die gegenwärtige Rezession nimmt sich auch deshalb wie eine Demütigung des deutschen Selbstverständnisses aus, weil vermeintlich so faule Länder des „Club Med“ – Frankreich, Spanien und Italien – mit ihren gegenwärtigen Wachstumsraten den früheren ökonomischen Giganten und „Exportweltmeister“ zu übertrumpfen scheinen. Wahrscheinlich können sich einige Politiker in Paris, Madrid und Rom nicht einer gewissen Schadenfreude über das deutlich vernehmbare Stottern des deutschen Wirtschaftsmotors enthalten: Allzu oft traten in der Vergangenheit deutsche Regierungsmitglieder im Süden Europas als Zucht- und Lehrmeister auf, die den dortigen Staaten die erforderlichen Wirtschafts- und Finanzreformen zu diktieren versuchten.


Tatsächlich betreibt Deutschland nun schon seit rund einem halben Jahrhundert eine Politik, die sich kaum von dem unterscheidet, was vor allem an deutschen Stammtischen den südeuropäischen Ländern gerne vorgeworfen wird: gigantische Staatsausgaben für großzügige Sozialleistungen, mit denen Parteien aller Couleur ihre Wählerschaft bei Laune zu halten versuchen. Die Kosten für Renten, Gesundheit, Pflege, Arbeitslosigkeit, Familie, Sozialhilfe, Wohngeld etc. stiegen zwischen 1970 und 2022 von etwa 25,5% auf 32,4% des BIP. Die Staatsverschuldung von Deutschland wuchs entsprechend im gleichen Zeitraum von 17,8 Prozent auf rund 70 Prozent des BIP.


Im Grunde ist gegen diese finanzielle Sause auf Kosten aller wenig einzuwenden, zumal auch alle in ihrem Leben schon einmal daran teilgenommen haben oder noch teilnehmen werden. Wenn allerdings die Sozialleistungen auf dem gegenwärtigen Niveau gehalten oder gar weiter ausgebaut werden sollen, führt kein Weg daran vorbei, Maßnahmen zur Stärkung der deutschen Wirtschaftskraft zu ergreifen.


Wirtschaftswissenschaftler wie der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, haben erkannt, was erforderlich ist, um den deutschen Wirtschaftsmotor wieder flottzumachen: Die Rahmenbedingungen für Unternehmen müssen verbessert werden, womit er vor allem den Abbau von Regulierung und Bürokratie sowie staatliche Investitionen in die marode Infrastruktur versteht. In anderen Worten: mehr Marktwirtschaft wagen!


Die Widerstände dagegen sind groß. Mit dem Begriff „Marktwirtschaft“ werden vielerorts immer noch düstere Vorstellungen verbunden. Er klingt nach „Neoliberalismus“, nach einer Wirtschaftsordnung, in der sich der Staat jeglicher Aktivität enthält, so dass über kurz oder lang wieder der „Manchesterkapitalismus“ des 19. Jahrhunderts obsiegt: Vor dem geistigen Auge sieht man schon, wie ein paar „Kapitalisten“ in ihren Palästen ihrem gigantischen Reichtum frönen, während ausgemergelte Kinder in finsteren Stollen im Dreck graben müssen, abgemagerte Menschen aus dem „Lumpenproletariat“ (Karl Marx) ein dünnes Süppchen löffeln und Kranke ohne ärztliche Versorgung auf den Straßen elendig verrecken.


Indes lag den einstigen Vordenkern des „Neoliberalismus“ wie Ludwig Erhard, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow nichts ferner als die Rückkehr zum schrecklichen Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Im Gegenteil legten sie großen Wert auf eine staatliche Ordnungspolitik, öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und lenkende Eingriffe für eine soziale Absicherung des Individuums gegen die Widrigkeiten des Lebens. Allerdings wussten sie auch, dass der Staat finanziell auf Dauer nur dann handlungs- und leistungsfähig ist, wenn marktwirtschaftliche Verhältnisse herrschen. Darunter verstanden sie vor allem die Garantie des Privateigentums, die Förderung des Wettbewerbs, den offenen Marktzugang, die Vertrags-, Gewerbe- und Konsumfreiheit sowie die Anerkennung von Marktmechanismen, die sich einer vollständigen Sozialisierung sowohl von Gewinnen als auch von Verlusten aus unternehmerischer Tätigkeit enthalten.


Den Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse gerichtet, führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass der sozialstaatliche Aspekt des „neoliberalen“ Konzepts zu Genüge verwirklicht worden ist, der marktwirtschaftliche Anteil hingegen auf ein Minimum geschrumpft wurde. Man könnte es sogar noch drastischer formulieren: Im Grunde hat der Staat mit einer Fülle von Garantien, Subventionen, Quoten, Ausnahmeregelungen sowie Preis- und Nachfragemanipulationen den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in nahezu allen Bereichen außer Kraft gesetzt.


Rasche Änderung an diesem Missstand ist erst einmal nicht zu erwarten, weil die Ampelkoalition in Berlin ähnlich wie die Vorgängerregierung einen staatsaktivistischen Kurs fährt. Sie wird ihn wahrscheinlich allein schon deshalb beibehalten, weil er viele Möglichkeiten der politischen Profilierung eröffnet. Denn die unerschütterliche Neigung, mit staatlichen Maßnahmen nicht nur erforderliche Investitionen in Zukunftstechnologien oder den Zuzug von Fachkräften zu fördern, sondern auch einzelne Interessengruppen mit Sozialtransfers zu beglücken, ist ebenso populär wie die Drohung, die „Reichen“ mit höheren Steuern zu belasten oder sie gar zu enteignen. Ein Großteil der Presse und der Bevölkerung hängt immer noch der Überzeugung an, dass massive Krisenerscheinungen in einzelnen Bereichen wie zum Beispiel im Wohnungsbau Ausdruck eines „Marktversagens“ seien, obgleich es der Staat ist, der mit seinen Interventionen hier geradezu exemplarisch jegliche marktwirtschaftliche Tätigkeit erstickt hat.


So wird sich die ökonomische Lage voraussichtlich erst noch verschlechtern, bevor sie wieder besser wird. Trösten kann man sich mit der historischen Erfahrung, dass die Reformbereitschaft in Deutschland stets in dem Maße stieg, wie die strukturellen Ursachen ökonomischer Krisen eigentlich nur noch von sozialistischen Betonköpfen bestritten wurden. Ist aber erst einmal das Steuer in die marktwirtschaftliche Richtung herumgerissen, werden die beunruhigenden Nachrichten über eine schrumpfende Wirtschaft und die Auslagerung von Industrien rasch verebben. Es liegt also am „kranken Mann in Europa“ selbst, wann er das Krankenhaus wieder verlässt.

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