- Nils Havemann
Neues Gesetz zur Selbstbestimmung: „Ich darf so werden, wie ich will!“

Die Koalition aus SPD, FDP und Grünen hatte sich bereits im Herbst 2021 im Koalitionsvertrag auf die Einführung eines „Selbstbestimmungsgesetzes“ geeinigt, mit dem die Anerkennung und der Schutz der geschlechtlichen Identität von trans- und intergeschlechtlichen sowie nicht-binären Menschen gefördert werden sollen. Schon damals unkten skeptische Zeitgenossen, dass dabei eigentlich nur modischer Unfug herauskommen könne. Folglich braute sich in den vergangenen Monaten in dem Maße, wie der geplante Inhalt dieses Gesetzes an die Öffentlichkeit gelangte, ein identitätspolitisches Ungewitter zusammen. Nun, nachdem das Kabinett einen Gesetzesentwurf verabschiedet hat, hagelt es Kritik selbst aus Ecken, die bislang nicht durch eine reaktionäre Haltung oder den Kampf gegen die Gleichberechtigung aufgefallen sind.
Beim Lesen des Gesetzesentwurfes verfestigt sich indes der Eindruck, dass die Empörung ein wenig übertrieben ist. Die Befürchtung, dass das Gesetz es Sittenstrolchen erleichtern könnte, sich, als Transperson getarnt, Zugang zu Frauen-Schutzräumen zu verschaffen, scheint nicht sonderlich gerechtfertigt zu sein. „Kein Mann muss seinen Geschlechtseintrag ändern lassen, um in Deutschland eine nackte Frau zu sehen“, parierte die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman diesen Einwand. – Touché!
Deutlich schwerer wiegt da schon der Gedanke, das Gesetz gefährde die „natürliche" Entwicklung von Heranwachsenden, weil auch Minderjährige ihren Geschlechtseintrag ändern können. Diese Sorge ist nicht so einfach von der Hand zu weisen: Meine Güte, zu wem oder was man sich in der Pubertät hingezogen fühlt! Die meisten schütteln schon wenig später über sich selbst den Kopf und wundern sich darüber, wen oder was sie da angehimmelt haben.
Sicherlich ist es weitgehend ausgeschlossen, sich lediglich aus einer flüchtigen hormonellen Laune heraus amtlich für ein anderes Geschlecht zu entscheiden. Immerhin müssen laut Gesetzentwurf die Sorgeberechtigten bis zur Volljährigkeit ihrer Zöglinge einem solchen Entschluss zustimmen. Doch darin entdecken Kritiker gleich den nächsten Haken: Das Gesetz werde Zank und Unfrieden stiften, weil die Zustimmung der Eltern durch das Familiengericht ersetzt werden kann. Tatsächlich vermag man sich lebhaft die Zwistigkeiten vorzustellen, die allein schon daraus erwachsen können, dass der Nachwuchs gegen die spießigen Eltern einfach mal aufbegehren und mit der Botschaft schockieren möchte, anders als andere zu sein.
Allerdings hält auch dieser Einwand einer genaueren Betrachtung nicht stand. Denn im Vergleich zu früher ändert sich eigentlich nicht viel. Während einst die jungen Leute ihr Haar wild wachsen ließen, es rot färbten oder sich einen Irokesenschnitt zulegten, kann sich jugendlicher Protest heute in der Aussage manifestieren, „trans“ zu sein. Solange durch medizinische Eingriffe nicht voreilig Fakten geschaffen werden, sollte das Entsetzen über die rebellischen Kinder darauf beschränkt bleiben, dass ihre Bildungslücken erschreckend groß geworden sind: Die 68er, Pumuckl und die Sex Pistols sind allem Anschein nach schon in Vergessenheit geraten.
Es lohnt sich daher, bei der Beurteilung des Selbstbestimmungsgesetzes eher die Chancen zu betrachten. Im Grunde muss man dafür beten, dass die Ampelkoalition ungeachtet ihrer Streitereien und mäßigen Leistungen auf anderen Gebieten ihren identitätspolitischen Weg konsequent fortsetzt. Denn nicht nur das biologische Geschlecht kann eine Illusion sein. Auch andere biologische Merkmale erweisen sich bisweilen als reine gesellschaftliche Konstruktionen, die konsequent „dekonstruiert“ werden müssen.
In diesem Sinne sollte die Regierung zunächst das Selbstbestimmungsrecht beim Alter regeln. Fast alle sind sich einig darin, nur so alt zu sein, wie man sich fühlt. Daher ist es nur recht und billig, jeden selbst darüber entscheiden zu lassen, wieviel Jahre er auf dem Buckel hat: Vielleicht 18, um noch einmal das Abitur zu machen? Oder warum nicht 67, um nach dem letzten Ärger mit dem Chef in die wohlverdiente Rente gehen zu können?
Aus Sicht der Ampelkoalition kann es eigentlich nur einen nachvollziehbaren Grund gegen eine solche Reform geben: Bei denjenigen, die sich für ein anderes Alter entscheiden würden, handelt es sich um eine Mehrheit.